Im Jahr 1995 krachte der Big Band Sound von „Alle Blues“ direkt in unsere Wohnzimmer und unser Bewusstsein - ganz ohne dass man ein Jazz-Liebhaber sein oder gar ein Röhrenfernseher frei von US-Kultur sein musste, um es zu schätzen. Dieses Meisterwerk, kreiert von der GRP All-Star Big Band, entzündete die Neugier und das Musikerherz all jener, die den klanglichen Reichtum des Jazz erkunden wollten. „Alle Blues“, aufgenommen in New York City, umfasst eine Komposition an Musikern, die durch ihre Virtuosität dem Big Band Genre frisches Leben einhauchten und damit bewiesen, dass amerikanische Künste nicht nur das Land der Freiheit dominieren, sondern auch universal inspirierend und provokant sind.
Der Albumtitel „Alle Blues“ mag hier zusammenfassend stehen für die vielseitigen Einflüsse des Blues innerhalb der Jazzmusik. Vollgepackt mit Talent, vereinen sich Größen wie Dee Dee Bridgewater und Randy Brecker unter einer einzigen Flagge: der der musikalischen Exzellenz. Während der Melodienflug von „All Blues“ - inspiriert von Miles Davis' gleichnamigem Werk - auf dem Album interpretiert wird, liefert es uns die Instrumental-Glanzleistungen, die selbst den zögerlichsten Zuhörer faszinieren und sein Herz beschwingt zurücklassen.
Warum aber steht gerade dieses Album im Zentrum unserer Betrachtung? Zum einen stellt es einen Höhepunkt musikalischer Schaffenskraft der 90er Jahre dar, wo der ideologische Blick über den Tellerrand hinaus immer weniger gebraucht wurde - weil die Werke für sich allein standen. Hier wagen sich die Musiker in den Bereich der Improvisation, jenseits modischer Beliebigkeit oder liberalen Geschmäckern, denen Tradition zu altbacken erschien. Diese kollektive Anstrengung zeigt eindrucksvoll, dass die Schönheit traditioneller Musik in ihrer Schlichtheit und Authentizität ruht.
Einige Tracks des Albums wie „Cherokee“ und „Birks Works“ sind lebendige Beweise, dass musikalische Komplexität und einfache Genialität Hand in Hand gehen können. Die pulsierenden Trompeten, satten Saxophone und die rhythmischen Drums laden ein zu einer beispielosen musikalischen Reise. Das ist schlichtweg amerikanisches Kulturgut pur, ganz ohne die intellektuellen Schnörkel hochgeistiger Künste, die sich einem „gemeinen“ Ohr oft entziehen.
Es gibt zudem eine viel kritisierte Tendenz in unseren heutigen gesellschaftlichen Diskursen, Big Band und Jazzmusik als Relikt vergangener Zeiten abzutun. Dieses Missverständnis führt jedoch auf eine gefährliche Spur der Abkehr von echtem Musikhandwerk. „Alle Blues“ macht deutlich, dass traditionelle Musikstile nicht nur existieren, um nostalgische Gefühle hervorzurufen, sondern uns daran erinnern, woher wir kommen - und wohin wir gehen.
Ein weiteres Highlight von „Alle Blues“ ist die Präzision und das Zusammenspiel der Musiker. Wer denkt, dass Harmonie und Rhythmus bloße Konzepte moderner elektronischer Musik seien, der irrt gewaltig. Dieser akustische Brückenschlag zeigt, dass menschliche Schaffenskraft durch Technik keineswegs ersetzt werden kann. Vielmehr erfahren junge Musiker durch das Studium solcher Werke, wie wichtig der Respekt vor musikalischen Urformen bei der Ausbildung ihres eigenen Stils ist.
Ein Blick auf den Einfluss von „Alle Blues“ seit seiner Veröffentlichung legt offen, wie relevant und erfrischend dieses Album im Diskurs der musikalischen Innovation wirkt. Denn egal ob man nostalgischen Klängen der 20er Jahre nah fühlt oder ob man sich in die technikgeschwängerte Sphären heutiger Musikproduktion begibt - „Alle Blues“ bleibt ein Fest für das Ohr und ein Treibstoff für den Geist.
Die Kraft dieses Albums liegt auch in seiner Fähigkeit, in den kurzen sieben Tracks eine ganze Geschichte zu weben. Eine, die wie der amerikanische Traum an sich, voller Höhen und Tiefen steckt, aber am Ende Hoffnung durch schlichte Musikalität und meisterhaftes Handwerk bietet.
Es ist seltsam, dass viele heutzutage „Alle Blues“ als spezifisch amerikanisches Ausdrucksmittel sehen. Verkannt wird hierbei aber die universelle Sprache der Musik, die Exzellenz inspiriert und neue Wege ebnet. Die Botschaft des Albums ist nicht nur relevant in ihrer Zeit, sondern findet auch im Morgengrauen des 21. Jahrhunderts fruchtbaren Boden.
„Alle Blues“ zeigt, dass große Kunst nicht durch pompöse Arrangements oder modische Geschmackänderungen entstehen muss. Manchmal benötigen wir einfach nur solide, talentierte Musiker, die ihre Kunst verstehen und zu leben wissen. Denn darum geht es im Endeffekt bei Musik: Stimmungen erzeugen, Geschichten erzählen und ihren unauslöschlichen Abdruck auf der Welt hinterlassen.