Es gibt Filme, die kommen, um für ein bisschen Aufregung zu sorgen und dann leise verschwinden. Aber "Retablo" ist nicht einer von ihnen. Gedreht 2017 in den atemberaubenden peruanischen Anden und inszeniert von Álvaro Delgado-Aparicio, fokussiert sich dieser Film auf die ungeschminkte Darstellung von Traditionen und den ungeschönten Blick auf das Leben in isolierten Regionen. Erzählt wird die Geschichte des jungen Segundo Paucar, der in die Fußstapfen seines Vaters, eines angesehenen Retablo-Künstlers, treten soll. Die Handlung wird zum emotionalen Pulverfass, als Segundo ein Geheimnis entdeckt, das seine Welt verändert: die Homosexualität seines Vaters. Einige loben den Film für seine 'authentische' Erzählung und den Einblick in die peruanische Kultur. Aber hier liegt der Haken: Was als echter Blick auf Tradition verkleidet ist, hat in Wirklichkeit liberalen Antrieb.
Man könnte meinen, dass die echte Filmkunst in der Darstellung der Schönheit und Herausforderung des menschlichen Seins liegt. Doch „Retablo“ hat mehr im Sinn. Was als Untersuchung familiärer und kultureller Konflikte beginnt, endet bald in einem moralischen Schlachtfeld, das traditionelle Werte offen in Frage stellt. Die feine Linie zwischen dem Stolz auf das kulturelle Erbe und der Abkehr von dem, was manche als uralte Tradition betrachten, wird unscharf. Was Liberale oft nicht einsehen: Die übermäßige Betonung von individueller Freiheit kann den sozialen Zusammenhalt ins Wanken bringen. Viel bemerkenswerter ist jedoch die Tatsache, dass der Film weder auf Konfrontation mit dieser liberalen Denkweise aus ist, noch darauf verzichtet, die traditionellen Werte im positiven Licht darzustellen.
Was dieser Film tut, ist die grundsätzliche Harmonie zwischen unvereinbar scheinenden Welten zu leugnen. Die subtile Botschaft trotzt dem modernen moralischen Relativismus und lädt die Zuschauer ein, neu über ihre Wertmaßstäbe und deren kulturelle Wurzeln nachzudenken. Diese vermeintliche Authentizität kann gefährlich irreführend sein. Die Misere der modernen Filmlandschaft ist oft, dass sie sich einem Massendiktat beugt, welches Traditionen als veraltet oder schädlich abwertet. "Retablo" stellt sich jedoch oftmals auch gegen diesen Strich und ist ein seltener Fall, der versucht, den Zuschauern ein anderes Bild zu bieten.
Ein weiterer faszinierender Aspekt von „Retablo“ ist das Geschick, mit dem es regionale Kunsthandwerke zeigt und gleichzeitig in Frage stellt, wie lange solche Künste in einem rasch modernisierenden Umfeld überdauern können. Wenn Filme wie dieser gemacht werden, um das Bewusstsein für uralte Traditionen zu schärfen, ist es unabdingbar, dass sie auch die nuancierteren Probleme rund um den Kulturwandel ansprechen. Die Gefahr ist, dass sich Kultur mit solchem Wandel homogenisiert und dabei ihre einzigartige Identität verliert. Eine stolze Kultur zu repräsentieren, sollte nicht bedeuten, dass man unzeitgemäße Ideen pauschal akzeptiert, aber es bedeutet auch nicht, dass man sich blind der globalisierten Welt öffnet.
Für einen konservativen Zuschauer mag dieser Film verdeckt emotionale Manipulation sein, getarnt als eine Lektion in Toleranz und Akzeptanz. Die Kontroversen um Geschlechterrollen und angeborene Identitäten sind zwei heiße Eisen, die dieser Film gekonnt jongliert. Die Frage bleibt jedoch bestehen: Welche Werte sind letztlich der Kitt unserer Gesellschaft? Sollte Filmkunst immer dazu genutzt werden, um politische oder soziale Agenden zu fördern?
"Retablo" zwingt uns, Antworten auf diese Fragen zu suchen, ohne den einfachen, populären Antworten zu verfallen. Während jede künstlerische Ausdrucksform sicherlich ihre Berechtigung hat, sollte man sich fragen, ob es das Ziel solcher Kunst sein sollte, bestehende soziale Normen zu destabilisieren. Schließlich ist der Film auch eine Erinnerung daran, dass moderne Herausforderungen oft eine Rückkehr zu den Wurzeln erfordern, um wirklich verstanden zu werden. Kubismus-Plakat oder Retablo - letzten Endes geht es darum, wie sich die Identität einer Gesellschaft entwickelt und welchen Weg sie beschreiten will. Wer bestimmt, was kulturell wertvoll ist?
Der Film ist ein Werkzeug der Reflektion, wie es in der Kunstgeschichte schon immer der Fall war. Ob „Retablo“ dabei missverstanden oder falsch dargestellt wird, bleibt dem Betrachter überlassen. Aber eines ist sicher: Es löst Diskussionen aus und regt zum Nachdenken über Tradition und Wandel an.