Wer dachte, Selbstfindung ist nur für Yoga-Retreats in Bali reserviert, sollte dringend den Kibbutz in Betracht ziehen. Ein freiwilliger Einsatz im Kibbutz ist nicht nur ein Abenteuer, sondern auch eine wertvolle Chance, seine eigenen Grenzen auszuloten und echte, nicht-instagrame-taugliche Erfahrungen zu sammeln. Ein Kibbutz ist eine gemeinnützige, kollektive Gemeinschaft in Israel, in der Menschen zusammenarbeiten und zusammenleben, mit dem Ziel, eine alternative Lebensweise zu erleben. Menschen aus der ganzen Welt, vor allem junge Erwachsene, strömen während ihrer Übergangsphasen, Lückenjahre oder einfach aus purem Interesse in diese lebhaften Gemeinschaften. Und warum das? Weil es ein einzigartiges Erlebnis ist, das Theorie in die Praxis umsetzt und einem helfen kann, das Ziel der totalen Selbstaufopferung für das Gemeinwohl zu verstehen.
Unsere durch den Kapitalismus geprägte westliche Gesellschaft schätzt individuelle Leistung und Erfolg über alles. Das Kibbutz-Leben stellt diese Werte auf den Kopf. Wer hier freiwillig arbeitet, nimmt automatisch Abstand vom allgegenwärtigen materialistischen Streben. Hier geht es nicht um Dieselskandal-Autos oder den neuesten iPhone-Release, sondern um Arbeit, Gemeinschaft und den simplen Stolz, etwas von Grund auf zu schaffen. Es ist ein kleiner, aber feiner Unterschied zu den liberalen Ideen von Gleichheit und Freiheit. Hier im Kibbutz sind es nicht bloß leere Phrasen, sondern der Alltag.
Die Arbeit ist kein Spaziergang im Freizeitpark. Ob in der Landwirtschaft, der Viehzucht oder anderen handwerklichen Projekten – im Kibbutz wird körperlicher Einsatz gefragt. Jeder Beitrag zählt, denn die Gemeinschaft lebt davon. Es geht um das tägliche Überleben, die Organisation und den Ausbau ihrer Vision von einem kollektiven Leben. Ein erheblicher Unterschied zu einem achtstündigen Bürojob, der oft nur den Chef weiter bereichert.
Oft wird einem während dieser Arbeit klar, dass der Schutz der Umwelt und Nachhaltigkeit nicht nur leere Worte sind. Die Arbeit auf dem Feld, der Kontakt zur Natur und das Wissen, dass zukünftige Generationen von heutigen Taten profitieren könnten, prägen das persönliche Empfinden. Es ist eine Rückkehr zur Einfachheit und zu einem Leben im Einklang mit der Natur – ein Konzept, das im modernen, überhitzten Städteleben kaum noch Platz findet.
Das Zusammenleben im Kibbutz ist ebenfalls ein Erlebnis für sich. Gemeinschaft spielt eine besondere Rolle, denn alle packen an. Das gemeinsame Essen, das Teilen von Ressourcen und das Kennenlernen unterschiedlichster Menschen schafft ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, das in den bequemen, anonymen Metropolen selten anzutreffen ist. Sowohl Toleranz als auch Geduld werden hier tagtäglich gefordert und gefördert.
Anders als im oft konfrontativen politischen Diskurs, der unsere sozial organisierten Gesellschaften dominiert, funktioniert der Kibbutz wie ein Mikrokosmos, ein Versuchslabor, in dem Sozialismus im besten Sinne praktiziert wird. Hier sind Debatten nicht nur intellektuelle Spiele, sondern praktische Notwendigkeit, um das kollektive Zusammenleben zu gestalten. Stimme für Stimme wird überlegt, gesprochen und entschieden. Die Leute werden immer wieder unter Beweis stellen müssen, dass sie bereit sind, nicht nur zu nehmen, sondern auch intelligent und selbstlos zu geben.
Unbestreitbar ist auch der Einfluss, den das Land Israel auf das Kibbutz-Leben ausübt. Ein Land mit einer turbulenten Geschichte und dessen heutige Existenz immer wieder in Frage gestellt wird, dient als ständiger Hintergrund. Die reiche Kultur und die Vielfalt der Nation tragen zur besonderen Atmosphäre bei. Nirgendwo sonst wird das Leben von einer solch lebendigen Geschichte einer alten und gleichzeitig neuen Nation durchdrungen.
Für viele Freiwillige, die heimkehren, bleibt das Erlebnis im Kibbutz ein prägender Moment ihres Lebens; eine Art Neustart. Die gewonnenen Perspektiven und Lektionen bleiben oft weit über die Grenzen des Kibbutz hinaus erhalten und prägen die kommende Lebensweise und das Weltverständnis. Kritisches Denken, Problemlösungsfähigkeit und die wiederentdeckte Fähigkeit, Freude in den kleinen Dingen zu finden, sind nur einige der Vorzüge, die man aus dem Leben im Kibbutz mitnimmt.
Am Ende bleibt vielleicht die größte Lektion, die man lernt, dass wir alle, egal wie sehr wir uns auch abgrenzen möchten, ein kleiner, aber wesentlicher Teil von etwas Größerem sind. Dies zeigt sich in der relativen Einfachheit und der rauen, aber herzlichen Ehrlichkeit des Kibbutz-Alltags. Ein Erlebnis, das jeder, der eine Herausforderung sucht, jenseits der selbstgefälligen „Selbstoptimierungsmantras“ unserer Gesellschaft, unbedingt erleben sollte.