Étienne Wenger: Der unbequeme Guru der Wissensgesellschaft

Étienne Wenger: Der unbequeme Guru der Wissensgesellschaft

Étienne Wenger, der Schweizer Sozialtheoretiker, stellt mit seinen Ideen über Communities of Practice das traditionelle Verständnis von Bildung auf den Kopf. Während seine Konzepte Skepsis bei manchen hervorrufen, bieten sie auch eine notwendige Perspektive auf gemeinschaftliches Lernen in unserer sich rapide verändernden Welt.

Vince Vanguard

Vince Vanguard

Étienne Wenger: Der unbequeme Guru der Wissensgesellschaft

Étienne Wenger mag vielleicht nicht jedem ein Begriff sein, doch seine Ideen haben die Art und Weise, wie wir über Lernen und Gemeinschaften denken, revolutioniert. Der in 1952 in der Schweiz geborene Sozialtheoretiker, der sich selbst gerne als „Beobachter der Wissensgesellschaft“ bezeichnet, hat sich durch seine Arbeit über Communities of Practice einen Platz in der Hall of Fame der Theorie ergattert. Aber warum genau sind seine Überlegungen so wichtig, und warum verdrehen manche dabei die Augen?

Wengers Arbeiten finden ihre Wurzeln in den komplizierten Systemen des kollektiven Lernens. Nein, es handelt sich dabei nicht um klassisches Pauken in staubigen Klassenräumen, sondern um das Lernen im echten Leben, innerhalb von Gemeinschaften. Und das ist ein Punkt, den unsere von akademischen Titeln besessene Gesellschaft schwer schlucken kann. Für Wenger sind es die sozialen Umfelder und Interaktionen, die das eigentliche Fundament des Wissens bilden. Überall dort, wo Menschen zusammenkommen, entstehen diese „Communities of Practice“, sei es in einer professionellen Umgebung oder im Hobbyverein um die Ecke.

Die Idee, dass Wissen nicht nur eine Ware ist, die man akkumulieren kann, widerspricht dem kapitalistischen Prinzip der individualistischen Wissensakkumulation. Lernen wird stattdessen als ein nie endender Prozess betrachtet, der mit jeder Interaktion wächst. Wenger tauchte in den 1990er Jahren mit dieser Sichtweise auf, als die Welt gerade mit den Brandungen der Globalisierung und rasanten technologischen Fortschritten kämpfte. Und plötzlich wusste niemand mehr so recht, in welchem Teil der Welt wir eigentlich zugehörig waren.

Wengers Modelle helfen, den gegenwärtigen Zustand der Desorientierung zu verstehen. Denn in einer Welt, in der wir ständig mit Informationen bombardiert werden, ist es zunehmend entscheidend, wie Wissen verwaltet und weitergegeben wird. Seine Theorien fordern auf, über starre Hierarchien hinwegzusehen und die Macht der Gemeinschaften anzuerkennen, die gemeinsam an einem Strang ziehen und Wissen konstruktiv teilen. Liberale, die glauben, alles müsse institutionell reguliert werden, könnten daran zu knabbern haben.

Das provokanteste Konzept ist wohl die Auffassung, dass Lernen nicht in erster Linie von zertifizierten Bildungseinrichtungen kommt. Bildungspolitiker mögen schnauben, wenn sie hören, dass selbstorganisierte Gruppen und gelebte Erfahrungen oftmals produktiveren Nährboden für neues Wissen darstellen als so mancher hochdekorierten Elfenbeinturm. Doch die Realität, wie Wenger sie beschreibt, zeigt, dass echte Innovationskraft häufig nicht aus Bürokratie, sondern aus der Praxis selbst hervorgeht.

Zu Wengers Einfluss gehört auch die Einsicht, dass jeder von uns Lehrer ist, ob wir es erkennen oder nicht. In einer Ära der Expertokratien, in der Wissen auf Zertifikate reduziert wird, erinnert uns Wenger daran, dass auch der Freizeitmechaniker in seiner Garage oder die ambitionierte Hobby-Bäckerin von nebenan wertvolle Communitys of Practice bilden. Eine radikalere Wende zur Wertschätzung individuengetragenen Wissens kann man sich kaum vorstellen.

Die Praxiserfahrung und das informelle Lernen haben in vielen Teilen der Welt zunehmend an Bedeutung gewonnen, zumindest dort, wo man bereit ist, den steinigen Traditionen der institutionalisierten Bildung den Rücken zu kehren. In den schnellen Veränderungszyklen unserer heutigen Zeit geht es darum, wie schnell wir uns als Individuen und Gemeinschaften anpassen können. Wenger legt hier den Finger in die Wunde: Nur Gemeinschaften, die sich beständig wandeln und neu definieren, werden überleben und gedeihen.

Doch warum ist Wenger trotz der Relevanz seiner Projekte kein Held des Mainstreams? Ganz einfach: weil seine Theorien einer Selbstverständlichkeit und Bequemlichkeit einen Spiegel vorhalten, die nach einer gänzlich neuen Sichtweise auf Lernen und Wissen fragt. Springer aus politisch-konservativen Lagern sehen hier einige ihrer eigenen Werte bestätigt. Eine Welt, die weniger auf den Wert von Diplomen und mehr auf den Gehalt der gelebten Erfahrung setzt, bietet der irgendwie glorifizierten Institutionalisierung die Stirn.

Wer hier aufmerksam mitliest, wird feststellen, dass Wenger nicht vorschlägt, Bildungseinrichtungen abzuschaffen – auch wenn seine Kritiker das vielleicht gerne so darstellen würden. Er schlägt lediglich vor, Möglichkeiten zu schaffen, die gemachte Erfahrungen im gleichen Atemzug mit formalem Wissen würdigen. Es geht Wenger weniger um die Ablösung von Wissen als um seine Demokratisierung.

Dieses Plädoyer für gelebte Lernen setzt ein Zeichen: Anstatt in einer Welt zu leben, wo Macht an Titeln gemessen wird, positioniert er gesellschaftliche Praxis als Zentrum der Wissensbildung. Das Tafelwissen mag für einige noch immer über allem stehen, aber für diejenigen, die sich trauen, über den traditionellen Bildungshorizont hinauszublicken, könnte Wengers Ansatz der Schlüssel zu einem neuen Paradigma in einer schnelllebigen Welt sein.