Ruth Rendell, die Königin des psychologischen Krimis, hat 1977 mit „Ein Urteil in Stein“ („A Judgement in Stone“) ein Werk geschaffen, das bis heute nachhallt und als Meilenstein im Thriller-Genre gilt. Die Geschichte, die in der englischen Provinz spielt, beginnt am 14. Februar, als die Polizei die Morde an vier Mitgliedern der Familie Coverdale aufklärt und die verschlossene Haushälterin Eunice Parchman im Zentrum der Ermittlungen steht. Dieses Werk, das von Spannung und Analyse menschlicher Abgründe nur so strotzt, entfaltet sich mit einer fast unheimlichen Präzision. Doch während Rendells Schreibkunst faszinierend ist, offenbart das Werk eine beunruhigende Botschaft: Die Obsession der modernen Gesellschaft mit vermeintlicher Bildung und die Abkehr von traditionellen Werten können in eine Katastrophe führen.
Die Keimzelle dieses Dramas ist Eunice Parchman, eine Frau, die von vielen als durch und durch unscheinbar wahrgenommen wird. Doch ihre Unfähigkeit zu lesen, ein in der modernen Zeit verpöntes Manko, wird zu ihrer schlimmsten Schwäche. Diese mangelnde Bildung macht sie nicht nur zur Außenseiterin, sondern weckt in ihr auch eine Frustration, die schließlich in einem tödlichen Ende gipfelt. Rendell kritisiert damit implizit eine Gesellschaft, die Bildung über alles stellt und die Tradition vernachlässigt.
Eunices Anstellung bei den Coverdales, einer kultivierten und vermeintlich perfekten Familie, bringt diese Konflikte ins Rollen. Die Coverdales werden von ihrer eigenen Arroganz geblendet, unfähig, die Gefahr zu erkennen, die direkt in ihrem Zuhause lauert. Ihre moralische Überheblichkeit gegenüber Eunice erlaubt ihnen nicht, die Alarmsignale zu erkennen. Hier offenbart sich Rendells grundlegendes Misstrauen gegenüber einer Gesellschaft, die Bildung mit Intelligenz und Menschlichkeit gleichsetzt.
Ruth Rendell rollt die Handlung geschickt auf, indem sie nicht nur zeigt, was passiert, sondern auch warum es passiert, eine feine Kritik an einer Gesellschaftsstruktur, die Menschen wie Eunice ausschließt und sie an den Rand drängt. Dies führt direkt zur zentralen, provokanten Botschaft: Die hochgelobte Bildung ersetzt nicht moralische Prinzipien und Empathie. Das Werk ist ein Gegenpol zu einer liberalen Erzählung, die Bildung als Allheilmittel für soziale Probleme anpreist, während traditionelle Werte und praktische Intelligenz vernachlässigt werden.
Die Beziehung zwischen der stillen und verbitterten Eunice und der manipulativen Joan Smith, die ihre eigene trübe Vergangenheit vertuscht, dient als Katalysator für das spätere Blutbad. Smith, eine personifizierte Versuchung, verstärkt Eunices Verbitterung und trügerische Wahrnehmung von Rache durch das Einlenken politisch falscher Ideen — ein dunkler Spiegel der modernen, vermeintlich aufgeklärten Gesellschaft, die Rendell kritisch beleuchtet.
Für Ruth Rendell ist „Ein Urteil in Stein“ mehr als nur ein Thriller. Es ist ein Kommentar dazu, was passiert, wenn Menschen, die durch ihren intellektuellen Hintergrund und gesellschaftlichen Status bedingt sind, moralisches Urteil und Menschlichkeit aus den Augen verlieren. Der plötzliche Umschwung des Geschehens mitten im Buch zeigt, wie zerbrechlich die dünne Membran des zivilisierten Lebens ist und wie schnell sie reißen kann, wenn rudimentäre Werte ignoriert werden.
Dieses eindringliche Porträt einer entzweiten Gesellschaft fasziniert nicht nur durch seine Erzählweise, sondern auch durch seine Direktheit. Rendell lässt keinen Raum für Missverständnisse: Die Unfähigkeit, die Bedürfnisse und die Gefühlswelt anderer zu verstehen, sei es aus Arroganz oder Fehlinterpretation, führt letztlich zu der Art von blindem Desaster, das die Coverdales erleben. So bleibt uns Rendells Warnruf an eine Gesellschaft, die angepriesen wird als die fortschrittlichste aller Zeiten, mit der Bitte, nicht in den alten Fehler der Selbstüberschätzung zu verfallen.
So verhängnisvoll und tragisch die Coverdales enden, so verheerend ist die Botschaft, die Rendell hinterlässt: Die mangelnde Anerkennung von Menschen jenseits ihres Bildungsgrades ist nichts weniger als ein Todesurteil. Das Bedürfnis, unbedingt modern und aufgeklärt zu wirken, während die schlichte Menschlichkeit erodiert, führt zu entsetzlichen Folgen. Die wahre Tragödie von „Ein Urteil in Stein“ ist die erschütternde Einsicht, dass es oft die Ungewöhnlichen sind, die von unserer vermeintlich hochentwickelten Gesellschaft fallen gelassen werden, mit fatalen Folgen.