Der 1908er Film 'Dr. Jekyll und Mr. Hyde' könnte heute auf rote Ohren stoßen, denn seine ungeschminkte Darstellung der menschlichen Zwiespältigkeit ist für die etwas zart besaiteten Seelen unserer Zeit womöglich zu viel. Produziert von William N. Selig und basierend auf dem Roman von Robert Louis Stevenson, der 1886 veröffentlicht wurde, taucht dieser schwarz-weiße Stummfilm tief in das Menschsein ein und hinterfragt, was es heißt, moralische und gesellschaftliche Normen zu verletzen. Dieser Klassiker des frühen Kinos, gefilmt in Chicago, zog die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf sich, indem er die faszinierende und beunruhigende Verwandlung Dr. Jekylls in den üblen Mr. Hyde zeigte—eine Metapher für die verborgenen menschlichen Abgründe. Und warum? Weil er zeigt, was in unserer zivilisierten Fassade brodelt.
Betrachten wir einmal die schlichte Darstellung dieser Geschichte. Dr. Jekyll, ein angesehener Wissenschaftler, erschafft eine Formel, die seine dunkle Seite, Mr. Hyde, hervorbringt. Wenn das keine Verantwortungsübernahme ist, dann weiß ich auch nicht! Heute würde man ihn wahrscheinlich dazu zwingen, sich von seinen 'toxischen Eigenschaften' zu distanzieren oder sich gar der Cancel Culture unterwerfen zu lassen. Es wäre doch ein Skandal, eine solche Transformation menschlicher Natur einfach so darzustellen. Schließlich könnten sich virtuelle Mobs hinreißen lassen, Parallelen zu ihrem eigenen Verhalten zu ziehen. Vorsicht, Wahrheit im Anmarsch!
Der Film ist eines der ersten Beispiele dafür, wie das Kino komplexe moralische Fragen erforschen kann, ohne gleichzeitig politisch korrekt verkleidet zu sein. Was verbringt ein Jekyll mit dieser dubiosen Experimentierfreude? Diese Darstellung eines Mannes, der durch wissenschaftliche Mittel seine dunkle Seite entfesselt, wäre wohl heute brisant. Liberale würden wahrscheinlich schlussfolgern, dass ein solcher Film „schädlich“ für das psychische Wohlbefinden der Zuschauer sein könnte.
Ein weites Feld bleibt dieser 1911 veröffentlichte Film auf DVD. Er versetzt uns zurück in eine Ära, in der die Freiheiten der Kunst noch nicht von empörten Schreihälsen erdrückt wurden. Man bemerkt, dass er zu einer Zeit entstand, in der das Kino noch ein mutiger, unverfälschter Ausdruck der menschlichen Fantasie und Qual war. Man wagte es, unangenehme Wahrheiten zu präsentieren - eine Kunstform, die heute oft auf politische Belanglosigkeiten heruntergestuft wird.
In gewisser Weise repräsentiert dieser Film die Unabhängigkeit des Schöpfers, die furchtlose Erkundung eines Tabuthemas. Unverzichtbar wird die Klarheit, mit der 'Dr. Jekyll und Mr. Hyde' diesen Konflikt inszeniert, nicht durch die Absichten beeinträchtigt von denen, die befürchten, es könnten falsche Botschaften vermittelt werden. Die Reduktion auf einen Konflikt, der politischer Natur ist, verfehlt die ursprüngliche Absicht: das Hinterfragen der menschlichen Moral und ihren beunruhigenden Drang zur Dunkelheit unter den perfekten Oberflächen.
Anstatt so zu tun, als wäre die menschliche Natur eine gute alte Gleichung, zeigt uns diese Erzählung, dass wir Chaos und Kontrolle in uns tragen - etwas, das viele heutzutage nicht zugeben mögen. Schließlich stellt der Film eine Bedeutung in den Vordergrund: Dass das Wissen um die eigene Dunkelheit uns erst ermöglicht, ein vollständiges Leben zu führen.
Hut ab vor einem Film, der die Zeiten überdauert und die Menschen immer noch daran erinnert, dass man nicht alle Wahrheiten etiketieren oder in Theorieschubladen pressen kann. Ein wiederhervorgeholter Klassiker, den man heutzutage vielleicht als zu direkt oder unangemessen sehen würde. Aber waren es nicht die Direktheit und die schonungslose Ehrlichkeit, die uns die wichtigsten Lektionen über das Menschsein lehrten?
Der 1908er Dr. Jekyll und Mr. Hyde bleibt eine bemerkenswerte künstlerische Leistung, die sich darum nicht schert, sich den Dekreten des sozialen Meinungskorridors anzupassen. Es ist gut möglich, dass bei heutiger Betrachtung dieses Films die Augen verdreht und die Nasen gerümpft werden - von denen, die sonst meinen, alles Wissen dieser Welt mit dem Löffel gefressen zu haben. Aber frage ich mich, wer letztlich unheimlicher ist: Mr. Hyde oder die kurzsichtige Verbeugung vor ideologischen Moden?