Max Beckmanns Gemälde "Die Nacht" ist kein Kunstwerk, das sich leise und bescheiden in der Galerie versteckt. Nein, dieses Bild springt Sie förmlich an und gibt Ihnen eine verbale Ohrfeige. Entstanden zwischen 1918 und 1919, fängt der Künstler das Chaos und die Hoffnungslosigkeit der Nachkriegszeit ein, eine Epoche, die nicht nur politisch, sondern auch sozial am Rande des Zusammenbruchs steht. Beckmann, der mit seiner Kunst immer provozieren wollte, malt eine Szene der Gewalt: Ein Nachkriegstrauma in Öl gefasst.
Was passiert auf diesem bedrückenden Bild? Der Raum ist eng, die Körper sind verworren. Es gibt Geiseln, es gibt Peiniger, und in der Mitte ein blutleerer Jüngling. Die Gewalt und das Elend dringen förmlich in den Betrachter ein. So richtet Beckmann den Scheinwerfer auf die dunklen Ecken der menschlichen Psyche und die moralische Verkommenheit seiner Zeit. Kein Wunder, dass einige empfindsame Gemüter beim ersten Anblick die Flucht ergreifen möchten.
Warum sollte uns ein Bild aus einer so entsetzlichen Zeit wie dem Ersten Weltkrieg heute noch beschäftigen? Ganz einfach: Es hält uns den Spiegel vor. Die Verzweiflung und der Existenzkampf sind universelle Themen, die wir heute genauso erleben, nur dass wir unsere Abscheulichkeiten in hübsche Worthülsen und glatte PR-Kampagnen verpacken. "Die Nacht" entkleidet diese Lügen und konfrontiert uns mit der simplen Wahrheit: Der Mensch ist und bleibt ein Wesen, das ohne festen Kompass schnell in den moralischen Abgrund stürzt.
Beckmann selbst war kein blinder Idealist. Er hat die Welt gesehen, und was er sah, war meistens Schmutz. Von den Schrecken des Ersten Weltkriegs gezeichnet, erlebte er die Weimarer Republik als eine Phase voller Unsicherheit und Zerrissenheit. Dies spiegelt sich in seiner Kunst wider. "Die Nacht" ist eine düstere Warnung, ein Kunstwerk, das die Spreu vom politischen Weizen trennt.
Genauso wenig wie Beckmann selbst mit den gesellschaftlichen Konventionen konforme Umwege nahm, genauso wenig tut "Die Nacht" das. Es schreit und poltert, und vielleicht ist genau das der Grund, warum es nicht in jedermanns Wohnzimmer hängt. Liberalen, die in harmonischen Idealen schwelgen, taugt ein derart ungeschönter Blick auf die Realität vermutlich nicht besonders.
Die Symbolik in diesem Bild ist verstörend klar. Die Mannigfaltigkeit des menschlichen Leids ist greifbar. Hier sucht der Künstler nicht den leichten Weg, sondern den unbequem realen. Das ist der Unterschied zwischen Beckmann und vielen seiner Zeitgenossen: Er wagt es, die Hässlichkeit der menschlichen Natur unverblümt auszudrücken.
Wo einige nur das Chaos sehen, mag man auch ein Stück weit Hoffnung erkennen. Genau das macht dieses Bild so wichtig: Es zeigt, dass es auch im Abgrund noch einen Funken Menschlichkeit gibt. Der Betrachter wird regelrecht gezwungen, Stellung zu beziehen und sich mit der tiefen Dunkelheit auseinanderzusetzen, die nicht selten Teil der menschlichen Erfahrung ist.
Aber keine Sorge, wenn Ihnen "Die Nacht" zu düster ist, dann gibt es ja immer noch Kunstwerke, die sich in den brachliegenden Höflingen und Schmetterlingen der Natur verlieren. Nur vergessen Sie nicht: Während Sie sich an sanften Zeichnungen ergötzen, hat Beckmann bereits vor einem Jahrhundert die unangenehme Wahrheit ausgesprochen, die zögerliche Zeitgenossen von heute so gerne verschweigen.