Man könnte meinen, queere Filmproduktionen würden endlich an den Punkt kommen, wo Geschichten aus der LGBTQ+-Welt so normal und alltäglich erzählt werden können wie Liebesgeschichten in Heterobeziehungen – aber „Nenne das nicht Liebe“ ist alles andere als ein gewöhnlicher Film. In den schillernden Straßen von Berlin entfaltet sich eine spannende Erzählung voller Emotionen, Missverständnissen und dem andauernden Kampf um Akzeptanz und Selbstidentität. Dieser 2023 erschienene Film von der jungen, jedoch schnell aufsteigenden Regisseurin Johanna Kühn, stellt einen bedeutenden Meilenstein in der modernen deutschen Filmszene dar. Was leicht als ein weiterer Film über die Liebe zwischen zwei jungen Frauen gedeutet werden könnte, ist tatsächlich viel mehr – ein kritischer Blick auf soziale Normen, familiäre Werte und die Diskrepanz zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlichem Druck.
Im Zentrum der Erzählung steht die Protagonistin Luisa, eine junge Studentin, die an einer Berliner Universität Philosophie studiert. Ihre Welt wird von einer Begegnung aus der Bahn geworfen, als sie auf die charismatische und geheimnisvolle Künstlerin Clara trifft. Die beiden Frauen könnten nicht unterschiedlicher sein: Luisa, die sich oft in rationalen Gedanken und Büchern verliert, und Clara, die das Leben impulsiv und mit farbenfroher Leidenschaft umarmt. Trotz dieser Unterschiede entwickelt sich zwischen den beiden eine intensive, wenn auch oft unausgesprochene, Affäre.
Wenn wir uns die politischen und sozialen Reibungspunkte vor Augen führen, wird klar, dass es hier um mehr geht als um private Angelegenheiten dieser beiden Frauen. „Nenne das nicht Liebe“ durchleuchtet die Art und Weise, wie sich queere Beziehungen in die gesellschaftliche Struktur einfügen und diese gleichzeitig herausfordern. Besonders in einem Land wie Deutschland, das in vielerlei Hinsicht progressiv zu sein scheint, dennoch aber in traditionellen Gebieten oft zurückhaltend bleibt, wirft der Film bedeutende Fragen auf.
Obwohl der Film aus einer liberalen Perspektive erzählt wird, verschließt er nicht seine Augen vor den Herausforderungen, denen sich viele junge Menschen in der queeren Gemeinschaft stellen müssen. Familiale Erwartungen und traditionelle Wertvorstellungen werden oft innig mit sich selbst kombiniert, während die Außenwelt oft nicht so tolerant ist, wie es den Anschein hat. Die Eltern von Luisa spiegeln in diesem Film die gespaltene Haltung wider, mit der viele queere junge Menschen konfrontiert werden – ein Wunsch nach Freiheit trifft auf unbewusste Vorurteile.
Ein echter Kracher des Films ist die Darstellung realer emotionaler Verflechtungen und die Authentizität der Charaktere. Johanna Kühn schafft eine eindrückliche Atmosphäre und einen Film, der nicht nur auf ästhetischer Ebene anspricht, sondern auch nachhaltig im Gedächtnis bleibt. Das Drehbuch, geschrieben von der Regisseurin selbst, ist herzerwärmend und fesselnd. Die zärtlichen und dennoch oft schmerzlichen Interaktionen zwischen Luisa und Clara erwecken diese Erzählung zum Leben. Besonders beeindruckend ist, wie sich Kühn bemüht, beide Perspektiven der Geschichte darzustellen: sowohl den Drang nach Selbstentfaltung als auch die Ängste, die dadurch ausgelöst werden können.
In „Nenne das nicht Liebe“ sehen wir nicht nur die Kämpfe um die Entdeckung und Akzeptanz der eigenen Identität, sondern auch den Einfluss externer Faktoren auf persönliche Entscheidungen. Die Verzahnung zwischen beruflichen Ambitionen und persönliche Beziehungen ist ein weiteres zentrales Element der Handlung. Diese Themen sind besonders für die Zuschauer der Generation Z von Bedeutung, da sie in einer Welt aufwachsen, die mehr Mobilität und Wahlmöglichkeiten bietet als jemals zuvor, aber auch Erwartungsdruck und Unsicherheiten.
Es sollte jedoch bemerkt werden, dass nicht alle Reaktionen positiv sind. Ein Teil des Publikums, der sich mit traditionellen Werten identifiziert, mag Klischees oder eine einseitige Darstellung befürchten. Jedoch zeigt Kühn mit diesem Film, dass Empathie und Verständnis für unterschiedliche Lebensentwürfe weitaus wichtiger sind. Die zentrale Botschaft des Films bleibt: Liebe ist nicht einfach zu definieren und noch weniger auf ein einfaches Urteil zu reduzieren. Das Anliegen des Films ist es vielmehr, eine Bühne zu schaffen, auf der unterschiedliche Perspektiven ihren Platz finden.
Während „Nenne das nicht Liebe“ eindringlich die Dynamik zwischen den Protagonistinnen verfolgt, werden auch ernsthafte soziale Themen angesprochen. Erwähnenswert ist dabei die filmische Umsetzung, die so gestaltet wurde, dass die deutsche Hauptstadt in all ihren Facetten als eigener Charakter dargestellt wird – ein Spiegelbild der Vielzahl an Kulturen, Ideen und Emotionen.
Der Film ist auch eine Erinnerung daran, wie weit wir gekommen sind, und was noch zu tun bleibt, auch in einem Land, das sich selbst als inklusiv und tolerant betrachtet. Geschichten wie diese sind unerlässlich, um Vielfalt zu verstehen und zu feiern. Sie zeigen, dass „Liebe“ in vieler Hinsicht multifunktional sein kann: In der Akzeptanz von verschiedenen Lebensentwürfen, sowie in der Kunst, Geschichten zu erzählen, die über Hürden hinweg helfen.
„Nenne das nicht Liebe“ ist mehr als ein Film; es ist ein Manifest für all diejenigen, die nach Identität und Akzeptanz suchen. Zwischen den Zeilen bietet der Film Hoffnung und eine Auszeit für jeden, der sich jemals ungehört, unsichtbar oder missverstanden fühlte. Es ist eine Einladung, die Definition von Liebe zu erweitern und über die traditionellen symbolischen Schranken hinauszudenken.